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Dämmerig war es und roch auf angenehme Weise nach Geborgenheit, Schmieröl und rostigem Eisen. An Farben kann ich mich nicht erinnern, aber an den kleinen Hocker, den er mir neben seine Arbeitsbank schob. Sie war gespickt mit Unmengen von eigentümlichen Werkzeugen. Wenn ich ihn fragte, wofür dieses oder jenes wohl gut sei, bekam ich immer eine sehr lehrreiche Antwort, nie ein Abwiegeln oder Ausweichen. Es war ein ganz und gar herrlicher, aus jeder Zeit gefallener Ort und ganz ohne Frage war diese Werkstatt das ureigene Reich meines Großvaters.
Ich liebte es über alles hier bei ihm zu sein und ihm bei seinen, für mich meist unverständlichen, ja geheimnisvollen Tätigkeiten zuzuschauen. Mehr noch aber liebte ich es, wenn er mir von Russland erzählte, von seiner Zeit im Krieg, dem 2. Weltkrieg. Ja, er war als Soldat in diesen Krieg gezogen, aber irgendwie auch wieder nicht, das hatte ich sofort verstanden. Denn seine Aufgabe bestand nicht im Töten auf Befehl, oder Kämpfen, sondern im Löten, Schweißen, Schrauben und in Ordnungbringen. Mein Opa war schließlich Schlosser und genau das war es auch, was er dort in diesem Krieg getan hat. Es gab eine Werkstatt, auf Rädern natürlich, denn so ein Krieg bewegt sich ständig. Auf den vielen Schwarz-weiß Fotos, die er mir zur Untermalung seiner Geschichten zeigte, sah ich eine Art Bau- oder Zigeunerwagen und davor, jung, braungebrannt, meinen Großvater
Robert Hamerla und seine beiden Kollegen, wenn nicht einer von ihnen gerade das Bild gemacht hatte und so natürlich darauf fehlte. Meist trugen sie nur ein weißes Unterhemd auf dem Oberkörper, dann folgte ein Gürtel und die Armeehosen.
Unzertrennlich seien sie gewesen der
Hamerla, der
Kindervater und der
Brandes. Sie waren alle drei Handwerker und dafür verantwortlich, zu reparieren, was so kaputtging beim in den Krieg ziehen, erzählte Großvater mir. Zum Schießen hatten sie auf diese Weise wenig Zeit und Lust sowieso nicht. Es war immer viel zu tun und dann war da noch diese Sache mit der Front. Die bewegt sich nämlich ständig hin und her und so ist es mehr als einmal geschehen, dass die drei mit ihrem Werkzeugwagen sich mit einem mal nicht mehr hinter der Front befanden, was ja viel besser zum ruhigen Arbeiten ist, sondern ohne, dass sie es gemerkt hätten, mitten in den feindlichen Linien feststeckten. Das war dann schon sehr gefährlich, aber die drei hatten den ganzen langen, schrecklichen Krieg über Glück – na ja, fast immer. Sie sind dann am Ende in Gefangenschaft geraten, aber auch dort blieben sie zusammen und konnten gemeinsam entkommen.
Er sprach von ihrem langen Fußmarsch nach Hause zurück, der Freundlichkeit der russischen Landbevölkerung, den schönen russischen Frauen. Wenn Großmutter das hörte, schimpfte sie immer, ich sei doch erst sechs Jahre alt und viel zu jung für solcherlei Geschichten.
Was mich und glücklicherweise auch meinen Großvater nie hinderte unsere Gesprächsstunde bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit genau dort wieder aufzunehmen, wo wir unterbrochen worden waren.
Ja, diese drei Männer, das war schon eine ganz besondere Gemeinschaft und selbst jetzt noch, Jahrzehnte danach, verging kein Jahr, in dem sie sich nicht wenigstens einmal im Jahr besuchten.
Mein Großvater starb dann zwei Jahre nachdem ich aus meinem Heimatdorf nach Hildesheim gegangen war, um meine Krankenschwesternausbildung zu beginnen.
Einige seiner alten Fotos begleiten mich seit jeher. Fast zwei Jahrzehnte schon, er war viel zu früh, mit knapp 70 Jahren, gestorben und ich vermisse ihn manchmal noch sehr.
Vor wenigen Wochen saß ich auf der Terrasse meiner Schwiegereltern. Sie haben eine Gärtnerei auf die man von diesem Platz aus hinunterschaut und es war ein warmer und wirklich herrlicher Maitag. Ich solle doch bitte warten und noch ein wenig dort oben sitzen bleiben, meinte meine Schwiegermutter, denn der Großvater meiner Schwägerin Monika wolle mit frisch gestochenem Spargel vorbeischauen und den könne ich ihm dann gut abnehmen, während sie noch rasch etwas ausliefern müsse.
„Ja, ist in Ordnung,“ meint ich leicht mürrisch, „ aber bitte lass mich mit dem alten und mir ja völlig unbekannten Mann nicht so lange allein hier sitzen.“.
Sie war schon so gut, wie weg und antwortete nur mit einem „Natürlich, ich beeil mich“. Also ganz ehrlich, begeistert war ich nicht, denn ihr Zeitgefühl war recht entspannt und meine Aufgabe erschien ihr nett und unkompliziert. Erkannt habe ich ihn dann auch sofort, war ja nicht schwer. Ein alter, nett ausschauender Herr mit einer hölzernen Kiste in den Händen, die er schwungvoll auf dem Stuhl, direkt über meinem Strickzeug absetzte, sodass der Sand sich rieselnd darauf ergoss.
„Prima!“ dachte ich, „so macht man Punkte.“ Lächelte aber, gut erzogen wie ich bin, trennte Spargelkiste und Strickzeug voneinander und bot dem alten Herrn einen Stuhl und ein Getränk an. Beides wurde dankend angenommen und zudem ein Lob für den Spargel eingefordert. Der erschien mir nun doch keines großen Lobes wert, so fingerdünn, wie die Stangen waren, sah ich einer kniffeligen Schälarbeit entgegen. Aber ja, das war schon nett, so eine Kiste voller Spargel zu verschenken, sagte ich aber doch.
Ob ich die Qualität denn nicht beeindruckend fände. Er mit großem Fragezeichen in der Stimme. Puh, das ging jetzt doch etwas weit. „Nun ja,“ bemerkte ich aufrichtig, „ein wenig dünn sind die Stangen ja, aber sehr schön weiß“ fügte ich versöhnlich hinzu.
„Verstehen sie etwas von Spargel?“ fragte er nun.
„Klar, ich komme aus einer Spargelgegend und wir haben in meiner Kindheit im Garten der Großeltern selbst Spargel angebaut.“ Jetzt hatte ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit, so von Spargelkenner zu Spargelkennerin, sozusagen.
„Von wo kommen Sie denn her?“
„Aus Ebstorf, das ist ein Dorf in der Lüneburger Heide.“
„Wohnen Sie noch dort?“
„Nein, schon seit vielen Jahren nicht mehr. Warum?“
„Ach, ich hatte dort einmal einen Freund. Aber den werden Sie nicht kennen. Sein Name war Robert Hamerla, er ist schon lange tot.“
In diesem Moment wurde mir die Kehle ganz eng und ich war froh, dass ich saß. Mit zitternder Stimme brachte ich kaum vernehmbar heraus:
„Das war mein Großvater!“
Mein Gegenüber zeigte eine Reaktion, die, gleichwohl mit einigen Jahrzehnten Altersunterschied und noch einem Rest Unglauben, doch stark meinem eigenen unwirklichen Gefühl in diesem denkwürdigen Augenblick entsprach. Worte brachte er allerdings im Moment keine heraus, das mit dem Zuschnüren der Kehle hatte bei ihm wohl noch nachhaltiger als bei mir funktioniert.
Erst nach einigen surrealen Minuten des Einander Anstarrens meinte er: „Mein Gott!“ Woraufhin ich fragte, wie er denn hieße. Sein heiseres: „Brandes“ gab mir fast den Rest. Das war DER Brandes, aus dem Krieg, dem Werkzeugwagen, der Flucht und der jahrzehntelangen Freundschaft. „
Brandes und
Kindervater“, nannte ich die beiden für mich unvergesslichen Namen aus diesem denkwürdigen Dreiergespann. Der Skepsis in den Augen meines Gegenübers schwand augenblicklich dahin.
„Du liebe Güte, das ist ja wirklich fantastisch!“ Ich meinte es wirklich so. Der alte Herr fand allmählich Stimme und Fassung wieder und entgegnete: „Mann, das ist ja wirklich ein Ding, da wären der Robert und ich jetzt sogar miteinander verwandt!“
Wir redeten dann und redeten, er fragte nach Dingen aus der Vergangenheit, meiner Mutter, dem Haus meiner Großeltern. Die anderen kamen hinzu, wir versuchten unseren eigenartigen Gemütszustand zu erklären, die Einzigartigkeit dieser Begegnung, es gelang nur spärlich.
Die besondere Magie dieses Augenblicks verstanden wohl nur er und ich so richtig.
Wir hatten sie gefühlt, die Hand des Schicksals und wir sahen es beide, hier hatten sich noch einmal im Leben ganz besondere Wege gekreuzt, über den Tod hinaus.
veredit©isabella.kramer2014
Die Fotografie (Privatbesitz) zeigt wirklich meinen Großvater Robert Hamerla als jungen Mann, ca. 1933 aufgenommen in seinem täglichen Arbeitsfeld als Landmaschinenschlosser auf einem Bauernhof in der Region Ebstorf, bei Uelzen, Niedersachsen.
Erstveröffentlichung im Internationalen Kulturmagazin aus Kapfenberg, Östereich -
REIBEISEN Nr. 34 - Jahrgang 2017
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